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5. Dezember 2023

Auf der Jagd

ISTA-Wissenschafter:innen enträtseln Geheimnisse eines der „unheimlichsten“ Insekten

Im Frühjahr machte sich Jackson W. Ryan, der erste Journalist in Residence am Institute of Science and Technology Austria (ISTA), gemeinsam mit Postdoc Clementine Lasne aus der Vicoso-Gruppe am Campus auf die Suche nach Skorpionsfliegen. Inzwischen ist es der Forschungsgruppe gelungen, die gesamte Erbinformation des schwarz-gelb gestreiften Insekts zu entschlüsseln. Ihre Erkenntnisse wurden soeben im Fachjournal Molecular Biology and Evolution veröffentlicht und geben neue Einblicke in die Evolution ihrer Geschlechtschromosomen.

Ein Erlebnisbericht von Jackson W. Ryan.

Panorpa Cognata. Die Vicoso-Gruppe hat die erste vollständige Genomsequenz dieser Skorpionsfliegenart erstellt. Das könnte dabei helfen, die Geschichte der Geschlechtschromosomen bei Insekten aufzuklären.

Ende April 2023 versuchte der Frühling verzweifelt, die düstere Stimmung in Wien zu durchbrechen. Die Sonne lugte für ein oder zwei Tage durch die Wolken, verschwand dann aber schnell wieder für eine Woche. Obwohl ich aus Australien komme – wo der Frühling ein Sommer mit einer leichten Brise ist – neigt meine Haut zu Sonnenbrand. Regnerische und bewölkte Tage stören mich also keineswegs. Doch seit einer Woche, hoffte ich, dass sich das Wetter endlich auflockert. Ich wollte endlich auf die Jagd gehen.

Clementine Lasne, eine Evolutionsbiologin am ISTA, hatte mich eingeladen, ein Insekt ausfindig zu machen, das als eines der „am unheimlichsten aussehenden“ auf dem Planeten bezeichnet wird. Bei grauem Himmel würde es wahrscheinlich verborgen bleiben. Wenn aber die Sonne endlich wieder zum Vorschein käme, würde es auftauchen und sich nur wenige Meter jenseits des ISTA-Campus auf den Blättern niederlassen.

Als sich die Sonne dann endlich zeigte, stand uns nichts mehr im Weg. Die Jagd war eröffnet. Wir machten uns auf die Suche nach Skorpionsfliegen. Schon der Name lässt an mythologische Wesen wie etwa den Greif denken – jene legendäre Kreatur mit dem Kopf eines Adlers, dem Körper eines Löwen und einer Schlange als Schwanz. Ich wusste nicht, was ich erwarten sollte. Würde eine Skorpionsfliege vielleicht so aussehen? Eine Chimäre aus zwei verschiedenen Insekten (oder sogar mehreren?), die zusammenhängen? Ich entschied mich dagegen, das Insekt vor unserem Ausflug zu „googeln“ und ließ mich stattdessen überraschen. 

Anfang Mai, nach dem Mittagessen an einem Montagnachmittag, treffe ich also Lasne. Mit dabei ihr Fangnetz und Proberöhrchen. Auf geht es, in den großen Wald hinter dem ISTA-Campus, entlang von kleinen Nebenstraßen, vorbei am Kindergarten und weiter auf einen Schotterweg. Während wir spazieren, sammelt Lasne alle möglichen Insekten und Spinnentiere, um unserem Ziel näherzukommen, darunter eine parasitäre Wespe und einige Hummeln.

„Sie lieben Brennnesseln“, erklärt sie. Wahrscheinlich würden die Insekten einfach auf einem Blatt am Straßenrand „abhängen“ und ich könne sie dort finden, wenn mein Schatten sie nicht vorher verscheuche. Ein paar Minuten vergehen und wir halten an. „Ich glaube, da ist eine“, ruft sie. „Ich probiere, sie zu fangen.“

Mit ihrem großen Insektennetz bewaffnet, bewegt sie sich langsam und dann…

ZACK.

Wenn man Skorpionsfliegen einfangen will, muss man sehr schnell sein. Wie flott Lasne mit ihrem Netz über die Brennnesseln rauscht, überrascht mich trotzdem. Lasne begutachtet ihren Fang. „Ich hab sie“, jubelt sie und schaut in den Beutel, der nun voller Käfer ist, von denen ich vor einer Sekunde noch nicht einmal wusste, dass sie sich im Gras befinden. Sie überführt die Skorpionsfliege in ein durchsichtiges Probenröhrchen, damit ich mir ein genaueres Bild machen kann.

Anhand des Flügelmusters bestätigt sie, dass es sich um die Art Panorpa germanica oder „Deutsche Skorpionsfliege“ handelt. Es ist ein Männchen – genau das, was wir wollten. Nur die Männchen tragen den charakteristischen „Schwanz“, der Skorpionsfliegen ihren Namen gibt. Obwohl Lasne das Teströhrchen dreht, bleibt das Tier sehr ruhig und ermöglicht mir zum ersten Mal einen Blick auf das Hinterteil des Insekts.

Das Tier hat einen charakteristischen wulstigen Stachel auf seinem Rücken, der sehr an den Schwanz von Skorpionen erinnert. Anders als bei Spinnentieren ist es aber nicht wirklich ein Schwanz und er sticht auch nicht. Das Anhängsel ist ein sogenannter Cercus. Bei männlichen Skorpionsfliegen dient er als Begattungsorgan für die Paarung.

„Warum er diese Form angenommen hat, wissen wir nicht genau“, so Lasne.

Das durchaus spannende Geheimnis der skorpionartigen Genitalien ist jedoch nicht der Grund, warum Lasne und ihre Kolleg:innen in der Vicoso-Gruppe am ISTA das Insekt erforschen. Vielmehr versuchen sie, die Rätsel um ihre Geschlechtschromosomen aufzudecken.

Erfolgreicher Spaziergang durch den Wald. In den Wäldern rund um den ISTA-Campus machten sich Clementine Lasne und Jackson W. Ryan auf die Suche nach Skorpionsfliegen. © Jackson W. Ryan / ISTA

Lasst uns über Sex-Chromosomen sprechen

Die meisten Säugetiere, auch wir Menschen, haben 23 Chromosomenpaare – Bündel an genetischem Material, die wichtige Gene für eine Vielzahl von Funktionen enthalten. Eines dieser Paare besteht aus den Geschlechtschromosomen, von denen es zwei Formen gibt, die aufgrund ihres Aussehens unter dem Mikroskop als X oder Y bezeichnet werden. Frauen haben zwei X-Chromosomen (XX) und Männer ein X und ein Y (XY), wobei Weibchen immer ein X vererben und Männchen entweder X oder Y. Dadurch wird das Geschlecht ihrer Nachkommen bestimmt.

Skorpionsfliegen sind aber anders. Frühere Untersuchungen an chinesischen Skorpionsfliegen haben gezeigt, dass die Weibchen wie viele andere Insekten XX-Chromosomen haben, die Männchen jedoch nur ein X oder in der Fachsprache „XO“. Männchen haben ein X-Chromosom, während das „O“ gar kein Chromosom ist – es fehlt ihnen also eins. Das bedeutet, dass Weibchen ein X vererben und Männchen entweder ein X oder gar nichts.

Skorpionsfliegen gehören zu einer Ordnung von Insekten, die als Mecoptera bekannt ist, einer Schwesterordnung der Diptera, die üblicherweise als „echte Fliegen“ bezeichnet werden. Die Chromosomen der Zweiflügler sind etwas ganz Spezielles. Sie haben zwischen sechs und elf Chromosomen, wobei einige von ihnen als Müller-Elemente A bis F bezeichnet werden, benannt nach dem Biologen, der sie entdeckt hat. Lasne merkt an, dass Dipteren besonders eigenartig sind und mit ihren Geschlechtschromosomen häufig „Reise nach Jerusalem“ spielen. Das führt dazu, dass einige Arten ein Geschlechtschromosom mit dem Element A haben, andere mit dem Element B und so weiter. All diese Wechsel machen es den Evolutionsbiolog:innen schwer, die Geschichte des X-Chromosoms nachzuvollziehen.

Das Element F beispielsweise, ist ein eng gebündeltes Chromosom, das unter dem Mikroskop wie ein Punkt aussieht (es wird aus diesem Grund auch als Punktchromosom bezeichnet). Dieses Chromosom könnte das ursprüngliche Geschlechtschromosom der Dipteren gewesen sein, ist aber mittlerweile durch ein anderes Chromosom ersetzt worden. Die Forschung an Mecopteren wie Panorpa könnte dazu beitragen, die Geschichte dieses Geschlechtschromosoms bei Insekten aufzuklären.

Das Genom einer Skorpionsfliege entschlüsseln

In ihrer aktuellsten Studie hat die Vicoso-Gruppe nun die erste vollständige Genomsequenz von Panorpa cognata erstellt und damit einen Weg gefunden, diese Frage zu beantworten.

Zu diesem Zweck sammelte die Forscher:innen im August 2021 Proben von Skorpionsfliegen ganz in der Nähe von der Stelle, an der Lasne und ich im Mai 2023 auf die Jagd gingen. Während ihrer Expeditionen im Sommer sammelten sie Dutzende Skorpionsfliegen, und zwar von allen drei Arten, die am ISTA-Campus in Maria Gugging heimisch sind. Die am häufigsten vorkommende Art war Panorpa cognata.

Sie extrahierten die DNA sowohl von einem Männchen als auch einem Weibchen, um das Genom zu rekonstruieren, und untersuchten die Gesamt-RNA in Köpfen, Keimdrüsen und Kadavern von drei Proben beider Geschlechter. Kurz gesagt, versuchte das Team, alle DNA-Puzzleteile zusammenzusetzen, ein vollständiges Bild des X-Chromosoms zu rekonstruieren und einige seiner Merkmale zu charakterisieren. Zunächst entdeckten sie, dass Panorpa cognata, wie die chinesischen Skorpionsfliegen, das XX/XO-System verwendet.

Auch fanden sie heraus, dass das X-Chromosom ähnlich strukturiert ist wie das X-Chromosom von Schaben und Heuschrecken sowie das Müller-Element F. Unter dem Mikroskop bildet das Skorpionsfliegen-X-Chromosom einen Punkt – genau wie das Müller-Element F. Könnten das Müller-Element F und das Skorpionsfliegen-X-Chromosom eine gemeinsame Abstammung haben? „Die Tatsache, dass wir zeigen können, dass das X-Chromosom der Skorpionsfliege dem Müller-Element F der Diptera sehr ähnlich ist, weist in diese Richtung“, erklärt Lasne.

Warum die X-Chromosomen der Dipteren scheinbar „Reise nach Jerusalem“ spielen, während das X-Chromosom in anderen Insekten über Millionen von Jahren erhalten bleibt, konnte die Studie nicht beantworten. Zudem sind weitere Rätsel aufgetaucht, unter anderem, dass das X-Chromosom von Skorpionsfliegen scheinbar viele männliche Gene enthält, obwohl es doppelt so viel Zeit in den Weibchen verbringt. Dabei haben einige Wissenschafter:innen zuvor die Hypothese aufgestellt, dass die männlichen Gene aus dem Geschlechtschromosom fliehen und ihre Funktionen durch andere Chromosomen ersetzt werden könnten.

„Es gibt noch viele Rätsel über die Evolution der Geschlechtschromosomen bei Insekten“, sagt Lasne abschließend. Aber eines ist klar: Mit den ersten wärmenden Sonnenstrahlen wird sie wieder mit einem Netz in der Hand unterwegs sein, um Skorpionsfliegen zu sammeln.

Publikation:

C. Lasne & M. Elkrewi, M. A. Toups, L. Layana, A. Macon, B. Vicoso. 2023. The scorpionfly (Panorpa cognata) genome highlights conserved and derived features of the peculiar dipteran X chromosome. MBE. DOI: 10.1093/molbev/msad245

Projektförderung:

Dieses Projekt wurde durch Förderungen des Österreichischen Wissenschaftsfonds an C. Lasne (FWF ESP 39) und an B. Vicoso (FWF SFB F88-10) finanziert.

Information zu Tierversuchen:

Um grundlegende Prozesse etwa in den Bereichen Neurowissenschaften, Immunologie oder Genetik besser verstehen zu können, ist der Einsatz von Tieren in der Forschung unerlässlich. Keine anderen Methoden, wie zum Beispiel in-silico-Modelle, können als Alternative dienen. Die Tiere werden gemäß der strengen in Österreich geltenden gesetzlichen Richtlinien aufgezogen, gehalten und behandelt. Alle tierexperimentellen Verfahren sind durch das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung genehmigt.



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